Peinlich oder nicht?

Ob wir ein bestimmtes Verhalten peinlich finden oder nicht, ist eine Frage unseres Wertesystems. Oft werden uns Verhaltensweisen vorgeworfen, die andere als inakzeptabel empfinden. Wenn wir das gleiche Wertesystem verinnerlicht haben, dann werden wir peinlich berührt sein, dass uns jemand bei einer Entgleisung erwischt hat.

Anders ist es allerdings, wenn die Wertesysteme nicht übereinstimmen. Dies durfte ich auf einer Urlaubsreise erfahren.

Als besonderes Highlight unseres Urlaubs in Thailand begaben sich meine Freundin und ich auf eine fünftägige Dschungeltour. Es war eine Erlebnissafari. Wir ritten auf Elefanten, stürzten uns auf selbstgezimmerten Flößen in Stromschnellen und übernachteten in abgelegenen Bergdörfern des thailändischen Dschungels. Unsere kleine internationale Reisegruppe bestand aus fünf Personen. Außer meiner Freundin und mir gehörten zwei Engländerinnen und ein Mann aus Singapur dazu. Selbst wenn man in Erwägung zieht, dass wir jeden Abend unter freiem Himmel am Lagerfeuer unser Mahl einnahmen, zeigte der asiatische Reisegefährte ein für uns Europäer sehr befremdliches Verhalten. Insbesondere seine Angewohnheit, nach dem Trinken äußerst laut und herzhaft zu rülpsen, führte bei uns zu hochgezogenen Augenbrauen. Er hingegen freute sich über jedes gelungne Aufstoßen und hielt sich anschließend den Bauch vor Lachen.

 

Am dritten Tag konnten die beiden britischen Ladies nicht mehr an sich halten. Als unser asiatischer Reisebegleiter mal wieder nach einem großen Schluck Cola einen abgrundtiefen Rülpser von sich gab, echauffierten sie sich: »You are so offensive.«, fuhren sie ihn an »Your whole behaviour is so disguting.« – auf Deutsch bedeutet das in etwa: »Sie sind so widerlich. Ihr ganzes Verhalten ist ekelhaft.« Der Angesprochene sah sie nur verwundert an und verstand überhaupt nicht, warum sich die Engländerinnen so über ihn aufregten. Die drei wurden auch für den Rest des kleinen Ausflugs keine Freunde mehr.

Als ich später einem Kollegen von diesem Erlebnis erzählte, war ich über seinen Kommentar überrascht: »Na, klar,« meinte er, »in vielen asiatischen Kulturen ist ein Ausdruck besonderer Behaglichkeit und des Wohlfühlens, wenn man bei Tisch laut hörbar aufstößt. Insofern konnte der Tourist aus Singapur die Aufregung nicht verstehen. Für ihn war es keine Peinlichkeit.«

Ist das nicht höchst spannend? Meine kleines Erlebnis zeigt uns, dass ein Vorwurf uns nur dann erreichen kann, wenn wir das gleiche Wertesystem wie der Angreifer haben. In diesem Fall stimmten die Wertewelten nicht überein, so konnte der Reisende aus Singapur den Vorwurf nicht verstehen. Für ihn war sein Verhalten vollkommen in Ordnung, für uns eine Provokation. Ein Vorwurf zielt also ins Leere, wenn die Wertwelten der Gesprächspartner nicht übereinstimmen.

Im umgekehrten Fall, wenn Sie ein Vorwurf wirklich trifft, ist das immer ein Zeichen dafür, dass Sie das Wertesystem des Angreifers akzeptieren. Wenn wir also peinlich betroffen sind, uns schämen oder ein Loch suchen, in dem wir am liebsten verschwunden wären, dann bedeutet das, dass wir hier eine Wertung mit unserem Gegenüber teilen.

 

Peinlich - ein Rülpser in der Öffentlichkeit gilt hier als unhöflich. In Anderen Ländern zeigt es Behaglichkeit und ist voll akzeptiert. Foto: Georg Sander / pixelio.de

Peinlich – ein Rülpser in der Öffentlichkeit gilt hier als unhöflich. In Anderen Ländern zeigt es Behaglichkeit und ist voll akzeptiert. Foto: Georg Sander / pixelio.de

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